Mittwoch, 15. April 2015

+++ BREAKING +++ Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer gesunken



Gestern ist ein Kreuzfahrtschiff untergegangen. Von den bis zu 550 Menschen, die an Board waren, konnten nur knapp 150 lebend gerettet werden, der Rest ist ertrunken. Binnen Minuten wurden sämtliche Fernsehsendungen unterbrochen, internationale Suchteams machten sich auf den Weg zum Ort des Geschehens. Eine Welle der Solidarität rollte an. Nahezu alle europäischen PolitikerInnen bekundeten ihre Trauer und ihr Entsetzen, Fahnen wurden auf Halbmast gesetzt.

Davon hat man nichts mitbekommen? Ist ja auch nicht passiert - zumindestens nicht so. Es ist kein Kreuzfahrtschiff gesunken.

Aber gestern sind 400 Menschen im Mittelmeer ertrunken. 

http://www.bbc.com/news/world-africa-32311358

400 Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren, die ihre Hoffnungen auf Europa gesetzt haben. 400 Menschen, die zusammengepfercht auf nahezu seeuntauglichen Fischkuttern versuchen, das für sie gelobte Land zu erreichen. 400 Menschen, die - wissend, dass die Wahrscheinlichkeit, diese Überfahrt nicht zu überleben gar nicht so gering ist - es trotzdem versuchen. 400 Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben.

Und trotzdem kommt vielen dieses Szenario bekannt vor. Lampedusa ist ein Synonym für unzählige tote Menschen vor Italiens Küste geworden. Nicht zum ersten Mal kentern dort Boote. 

Wollte man alle Leichen der letzten Jahre zählen, dann schwirrt die Zahl 28.000 herum - so viele Menschen sind laut dem Netzwerk "The Migrant Files" seit 2000 beim Versuch, die Festung Europa zu betreten, gestorben.

Ertrinken gehört zu den grausamsten Todesarten überhaupt. Es ist weder angenehm noch schmerzlos, an Wasser zu ersticken – selbst wenn es oft überraschend schnell geht. Wie lange es dauert, hängt vor allem von den Schwimmerqualitäten und der Wassertemperatur ab. In Großbritannien, wo das Meerwasser oft sehr kalt ist, ertrinken 55 Prozent der Opfer nicht mehr als drei Meter von einem Ufer oder Boot entfernt. Zudem kann ein Drittel der Opfer gut schwimmen. Das zeige, dass man binnen Sekunden in Gefahr geraten könne, sagt Mike Tipton, Physiologe an der University of Portsmouth.

Kann das Opfer seinen Kopf nicht mehr über Wasser halten, beginnt der typische Überlebenskampf an der Oberfläche, der in etwa eine Minute dauert. Über Wasser schnappt der Totgeweihte nach Luft, unter Wasser hält er den Atem an. Sein Körper hängt aufrecht im Wasser, mit letzter Kraft bewegt er die Arme, als wolle er sich an einer Leiter hochhangeln.

Geht er schließlich endgültig unter, hält er den Atem so lange wie möglich an. Das ist kaum länger als 90 Sekunden möglich. Dann inhaliert er etwas Wasser, verschluckt sich, hustet und inhaliert noch mehr. Aus Reflex verschließt sich die Luftröhre. Das Wasser verhindert nun den Gasaustausch in der Lunge. »Es brennt zunächst etwas in der Brust, wenn das Wasser die Luftröhre hinabläuft, dann breitet sich aber ein Ruhegefühl im Körper aus«, sagt Tipton – die einsetzende Bewusstlosigkeit, der schließlich Herzstillstand und Hirntod folgen. (1)

Die Europäische Union ist Friedensnobelpreisträgrin. Und dennoch nimmt sie wissentlich den Tod von Menschen in Kauf. Die erfolgreiche Mission Mare Nostrum, die anstatt auf Grenzschutz auf Hilfe für Flüchtlinge gesetzt hat, wurde beendet - man könnte fast meinen, weil sie zu erfolgreich war. Statdessen patroulliert nun wieder Frontex im Mittelmeer. Das ist jene Grenzschutzagentur, die mittels Verordnung (!) dazu gezwungen werden musste, Schiffe nicht mehr in fremdes Hoheitsgebiet zurückzuschleppen, um nicht mehr dafür zuständig zu sein. Daneben nutzt Frontext bewusst verdrehte Fakten, um gegen Flüchtlinge Hetze zu betreiben.

Menschen in Seenot nicht zu helfen ist ein Verbrechen. Gleichzeitig kriminalisieren italienische Gesetze Kapitäne, die Flüchtlinge mit ihren Schiffen vor dem Ertrinkungstod retten, und strafen sie als Schlepper ab.

In Melillia können die Zäune nicht hoch genug sein, als das nicht jemand versuchen würde, da drüberzuklettern. Anstatt Lösungen solidarisch zu entwickeln setzt die EU auf ein System der Abschreckung, und die einzelnen Nationalstaaten liefern sich ein Rennen um die härtesten Asylrestriktionen. Österreich ist da vorne mit dabei.

Diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, leben. Aber viel mehr Rechte haben sie nicht.
Auf Flüchtlinge, die es nach Europa geschafft haben, warten oftmals massive Schikanen. Sie können ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen. Wenn sie trotzdem versuchen, in das Land ihrer Wahl vorzudringen, riskieren sie Rückschiebung, Internierung und polizeiliche Willkür. Die Dublin-Verordnung erlaubt es, Flüchtlinge wie Frachtgüter durch Europa zu karren. Am Ende landen sie in überforderten Ländern, wo Asylsuchende, selbst wenn sie minderjährig sind, systematisch inhaftiert werden. Diese Politik der Abschottung, der fehlenden Solidarität und der ungerechten Verteilung des Aufwands, der mit der Aufnahme von Flüchtlingen verbunden ist, kann nicht länger hingenommen werden.
Das fordert der PEN-Club in einem Aufruf, der gestern an Martin Schulz übergeben wurde. Das tragische Timing war da zwar nicht der markabere Hintegrund, könnte aber treffender kaum sein.

Dieses Jahr sind bereits etwa 900 Menschen vor den Küsten Europas abgesoffen. Das sind Dimensionen, die man sich nicht mehr vorstellen kann. Die 400 Menschen, die gestern gestorben sind, das sind in etwa zweienhalb GermanWings-Maschinen (2).

Flüchtlinge haben keine Lobby. Wie viele Menschen noch vor Europas Toren ertrinken müssen, bis sich die europäische Flüchtlingspolitik ändert, ist ungewiss. Es werden bedeutend mehr als 400 sein.


(1) http://www.zeit.de/zeit-wissen/2008/06/Sterbegefuehle
(2) Tote Menschen gegeneinander aufzurechnen finde ich prinzipiell ekelhaft. Ich habe lang nachgedacht, wie man diese Zahl besser verdeutlichen kann. Ich kanns mir nicht begreiflich machen, wie viel 400 Tote sind - und der Vergleich mit dem tragischen Vorfall einer GermanWings-Maschine unlängst ermöglicht mir, die Dimension ein kleines bisschen einzuschätzen.

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